Von meinem Großvater gibt es ein vergilbtes Schwarzweiß-Foto. Ich mag es sehr: Er steht da auf einem Waldweg, lässig auf seinen Spazierstock gestützt, um die rechte Schulter eine Hundeleine und um den Hals ein Fernglas. Falk, sein Hund, sitzt auf dem Foto direkt neben ihm. Großvater strahlt auf dem Foto: Er ist im Wald. Von meinem Vater weiß ich, dass das immer schon sein Lieblingsort war. Meinen Großvater als „Naturfreund“ zu beschreiben, wäre eine grobe Untertreibung. Er liebte den Wald, die Natur – die Wunder der „Schöpfung“, wie er es als gläubiger Christ ausdrückte.
Naturliebe weitergereicht
Ich selbst habe meinen Großvater nur kurz gekannt, er ist für mich zu früh gestorben. Aber vieles von seiner Schöpfungsverbundenheit hat er offensichtlich an meinen Vater weitergegeben. Und von dem wiederum habe ich sie „geerbt“. Aufgewachsen auf dem Land, war ich als Kind und als Jugendlicher stundenlang mit ihm in der Natur unterwegs, meist im Wald. Wir gingen „einfach nur“ spazieren, beobachteten Tiere, kontrollierten und reparierten Futterstellen. Mein Vater erzählte mir dabei viel von der „Lebensgemeinschaft Wald“, wie er es nannte. Er wusste viel von den vielfältigen Beziehungen der einzelnen Lebewesen. Er erzählte mir von Bäumen, Sträuchern, Bodenpflanzen, von den großen Waldtieren und auch von Kleinlebewesen wie Insekten, Schnecken, Moosen und Pilzen.
Ich war beeindruckt und fasziniert. Vielleicht gar nicht mal so sehr von seinem immensen Wissen. Aber von der Leidenschaft, mit der er an der Natur hing, sie durchschritt, sie respektierte und erkundete. Und er teilte sein Wissen mit mir, seine Achtung, Achtsamkeit. Ja, ich erlebte seine tief empfundene Zärtlichkeit, mit der er diesem Lebensraum begegnete und die aus jedem seiner Sätze sprach.
„Pass auf, da ist eine Ameisenstraße“, höre ich heute noch seine Warnung, wenn meine Augen die wuseligen Waldameisen zu meinen Füßen übersahen. Oder wie er auf ein unscheinbares Häuflein von Haselnussschalen hinwies: „Schau mal, hier muss irgendwo über dem Weg ein Eichhörnchen wohnen …“ und in die Baumkronen spähte. Oder wie er kurz die Augen schloss, tief einatmete und mit einem seligen Lächeln zu mir sagte: „Horch hin … Ist diese Stille nicht wunderbar?“
Schöpfung und Natur brauchen Aufmerksamkeit und Achtsamkeit
Daran muss ich jedesmal denken, wenn ich heute, Jahre nach seinem Tod, noch regelmäßig durch die Natur laufe. Wie mein Vater achte ich ganz bewusst darauf, wohin ich meine Füße setze. Bloß nichts kleines Lebendiges übersehen oder durch Unachtsamkeit tot trampeln, am besten nicht einmal einen Stein unnötig umstoßen – darunter könnte sich ein Käfer verstecken.
Mag sein, dass sich das für den einen oder die andere „überkandidelt“ anhört. Aber ich empfinde für die Natur, die uns umgibt, tatsächlich wie mein Vater eine große Zärtlichkeit. Und eng damit zusammen hängt ein starkes Gefühl von Verantwortung. Ich spüre die Verletzlichkeit und die Verletzungen der Natur fast physisch, ärgere mich maßlos darüber, wie gedanken- und achtlos Gewerbegebiet um Gewerbegebiet seelenlos asphaltiert und immer weiter ins Herz der Natur getrieben wird.
Achtlosigkeit vor unserer Haustür
Es ist ja nicht nur der Regenwald in Lateinamerika und Indonesien, der den Konsumbedürfnissen unserer ach so aufgeklärten und zivilisierten Gesellschaft geopfert wird. Das gleiche passiert gleich vor unserer Haustür. Ich werde wütend, wenn ich am Rand meiner täglichen Runde durch die Natur vor meiner Haustür Tüten mit Abfall einer großen Fastfoodkette entdecke, die am Abend zuvor achtlos aus einem Auto geworfen wurden. Ich werde sauer, wenn ich im Fernsehen machtlos zuschauen darf, wie im Rheinland Bagger zwecks Deckung unseres Energiehungers – unvermeidlich, sagt die christlich-liberale Landesregierung – den „Immerather Dom“ einreißen.
Konsequenzen ziehen
Also versuchen meine Frau und ich, in unserer Familie anders zu leben und kleine Zeichen zu setzen. Nicht aus Öko-Begeisterung oder missionarischem Eifer, sondern weil wir bei dem Raubbau an der Natur und den uns umgebenden Ressourcen nicht mitmachen möchten.
Das fängt beim täglichen Einkauf an (möglichst ohne Plastikverpackungen) und geht bis zur Frage nach dem Energiemix, aus dem die Stadtwerke „unseren“ Strom produzieren. Dabei tun wir längst nicht alles und gelingt uns auch nicht alles, was sinnvoll wäre. Aber wir bemühen uns.
Liebe zur Schöpfung weitergeben: Zu anspruchsvoll?
Was mich dabei schmerzt: Anders als meinem Vater und Großvater ist es mir leider bis heute nicht gelungen, meine eigenen Kinder genauso für die Natur zu begeistern, wie ich selbst dafür begeistert wurde. Gerne würde ich ihnen dieselbe emotionale Verbundenheit, ein „Gefühl“ für die Größe und Schönheit der Natur vermitteln. Einfach weil ich sie selbst so sehr als Bereicherung empfinde (und bei weitem nicht nur als weltbürgerliche Pflicht).
Also versuche ich, sie bei unseren gemeinsamen Streifzügen und Wanderungen durch die Natur (auf die sie sich als „sportliche“ Herausforderung durchaus einlassen) aufmerksam zu machen. Auf den hübschen bunten Vogel etwa, den ich mit dem Fernglas entdeckt habe. Oder ich erzähle ihnen vom „Job“ des Eichelhähers als „Alarmanlage des Waldes“. Und ernte wieder mal ein lakonisches, eher ironisches als staunendes „Was du schon wieder weißt, Papa …“. Und dann widmen sie sich wieder dem Klettern auf den Felsen am Wegesrand.
Schöpfung schützen, Natur bewahren
Es tut mir fast schon weh, dass sie bis heute noch nicht den Unterschied zwischen einer Amsel und einer Krähe erkennen. Oder bin ich bloß zu anspruchsvoll? Vielleicht ist es ja vermessen zu erwarten, dass meine Kinder die gleichen Gefühle für die Natur entwickeln wie ich und sich genauso mit dem Herzen daran hängen. Leben wir womöglich heute in einer Umwelt, die die Entwicklung solcher Gefühle kaum noch zulässt? Und ist nicht schon viel gewonnen, wenn der Gedanke sich in ihren Köpfen eingenistet hat, dass wir nur diese eine Erde haben? Dass wir sie – im eigenen Interesse! – mit ihrem vielfältigen Leben schützen und bewahren müssen? Und wenn die Kids von da aus vernünftig und verantwortungsvoll handeln?
Schöpfung und Natur: Mein emotionaler Zugang über die Fotografie
Immerhin teilen sie meine Freude für die Fotografie, die ich vor Jahren als Hobby entdeckt habe. Sie ermöglicht mir, in der Natur zu sein, sie zu spüren. Fotografie hilft, sie intensiv zu erleben. Im Fotografieren bekommt das Gefühl für das, was ich da sehe und erfahre, Ausdruck. Über dieses Medium, glaube ich, können auch meine Kinder (und andere) ein Stück weit meine Emotionalität für die Schöpfung nachvollziehen.
Für mich passt dieser irgendwie künstlerische Zugang ideal. Ich empfinde Dinge wie Musik, Dichtung, Kunst, Glaube und Naturliebe auf einer zutiefst emotionalen Ebene miteinander verwandt. Sie sind einander im Kern ähnlich: Ausdruck von Zärtlichkeit, Empfindsamkeit, Achtsamkeit. Sie sind inneres Berührtsein von der Welt, so wie sie uns umgibt. Mit ihrer Schönheit, ihrer Verletzlichkeit, ihren Brüchen, Narben und ihrer Kraft, sich neue Wege zu bahnen.
Info: Dieser Artikel schrieb ich für die Zeitschrift „neue gespräche“ (www.neue-gespraeche.de), erschienen in Ausgabe 1/2018
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